Wieso raste ich nie aus?

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so richtig ausgerastet bin. So mit Schreien und Türen knallen und Dinge-in-Ecken-feuern. Ich kann das irgendwie nicht. Wut ist gar nicht mein Ding – selbst als mich meine Psychiaterin bat, mal so richtig wütend in das Kissen zu boxen und den Inneren Kritiker zu vertreiben – fällt mir das ziemlich schwer. Daran gewöhnt habe ich mich bis jetzt nicht. Aber dass ich nicht ausraste, liegt nicht daran, dass ich nie wütend bin.

    Wut ist eine unserer Basisemotionen. Es gibt unterschiedliche Modelle, das einfachste geht von vier grundlegenden Emotionen aus: Wut, Freude, Trauer und Angst. Alle haben unterschiedliche Funktionen. Wut schafft Klarheit und führt idealerweise zu einer Handlung, mit der wir eine Veränderung herbeiführen: Etwas passt nicht für mich, daher ändere ich es. Trauer hingegen hat eine andere Funktion: Hier geht es darum, eine Veränderung, die bereits eingetreten ist, und die sich nicht rückgängig machen lässt, anzunehmen und zu integrieren. Traurigkeit gibt also keinen Impuls zur Veränderung. Wenn Menschen schon als Kind lernen, dass beispielsweise Trauer okay ist, aber Wut nicht, zeigen sie sich oft auch als Erwachsene eher traurig als wütend. Als Kind einer cholerischen und jähzornigen Mutter mit einer entsprechenden innerlichen Grundwut, die sich des Öfteren sehr zum Leidwesen ihres Umfeldes wie ein Zyklon entlud, hatte ich ein ganz schlechtes Wutvorbild, das ich verabscheute und mir Angst machte. Zudem lässt Wut niemanden besonders kompetent wirken. Trotzdem finden sich an den Spitzen aller möglichen Machtinstanzen immer wieder mehrheitlich Männer, die ihre Emotionsausbrüche nicht zu kontrollieren wissen.

    Hinzu kam noch das «Wutbild» der Gesellschaft: Wut ist ein männliches Privileg. Denn Wut ändert ihre Beschaffenheit – je nachdem, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammt. Ein wütender Mann gilt als überzeugt und entsetzt. Eine wütende Frau gilt als hysterisch und unkontrolliert. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wütendes Auftreten den Einfluss von Frauen mindert, während es den von Männern stärkt. Es ist daher kein Wunder, dass sich in den Machtpositionen dieser Welt ausschliesslich Frauen befanden und befinden, die über eine stärkere Selbstkontrolle verfügen als Bruce Lee. Denn will man als Frau ernst genommen werden, dann hat man stets die Fassung zu bewahren. All das ist Teil eines Narrativen, das so alt ist wie das Patriarchat selbst. Wenn man als Frau Einfluss gewinnen will, muss man sich also der Funktionsweise der patriarchalen Gesellschaft unterordnen – und möglichst still und verträglich sein.

    Die Wut ist ein heftiges Gefühl, das oft mit einem unbeherrschten Gefühlsausbruch einhergeht. Etwas weniger impulsiv und stetiger ist der Zorn, der nicht unbedingt in Worte oder Taten mündet. Wut und Zorn sind der natürliche biologische Mechanismus, mit dem wir zugleich wahrnehmen, was uns dringend angeht, und einschreiten. In Wut und Zorn mobilisiert unser Leib die nötige emotionale und körperliche Energie, wenn jemand unsere Grenzen überschreitet.

    Dass wir «blinde» Wut und Jähzorn dagegen moralisch kritisieren, liegt nahe, besonders wenn sie zur Gewalt führen. Schimpansen neigen manchmal zur «Aggressionsverschiebung»: Nach einer Auseinandersetzung mit einem Zweiten lässt ein Schimpanse seinen Frust an einem unschuldigen Dritten aus. In unserer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es natürlich noch mehr Gelegenheiten, solchen Affekten auf unsinnige Weise freien Lauf zu lassen – etwa den Briefträger anzupöbeln, weil er uns eine Rechnung bringt.

    Zorn und Wut sind elementare Empfindungen, die sich nicht einfach verbieten lassen. Wer sich die Wut dagegen stets verkneift, lernt nicht, konstruktiv mit ihr umzugehen. Nun – ich lerne es bei meiner Psychiaterin. Aber es ist ein Kampf: Es macht mir immer noch grosse Mühe, wütend in ein Kissen zu boxen. Ich werde es schon noch lernen – denn Wut ist die Kraft, uns zu befreien. Zu wissen, wie wir mit unseren Emotionen auf angemessene Weise umgehen, ist einer der Schlüssel zu Glück und Wohlbefinden. Allerdings liegt mir meine Schreibwut mehr!

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

    Vorheriger ArtikelDie etwas andere Zeitreise durch die kaufmännische Geschichte
    Nächster ArtikelSo geht Förderung von Lernerfolgen und Umsetzungskompetenzen